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Bevor das 40 Hektar große Areal einem neuen Stadtentwicklungsgebiet für 16.000 Bewohner:innen weichen wird, dokumentiert das Museum Nordwestbahnhof auf der Brache des Bahnhofs mit vorerst temporären Erinnerungs- oder Gedenkzeichen die Nutzung dieses letzten innerstädtischen Güterumschlagplatzes in der Zeit des Nationalsozialismus, als hier die antisemitische Hassausstellung „Der ewige Jude" stattfand, sowie seine Bedeutung für die Versorgung der Stadt während der sowjetischen Besatzung.
In einer Wanderung über das stillgelegte Bahnhofsareal legen wir anhand
der noch verbliebenen Bauwerke sowie der von uns inszenierten
Markierungen und Ausgrabungen Schichten aus dessen dunkler, vergessener
Geschichte – dem verdrängten Unterbewussten des Areals – frei. Dabei
geben wir Einblick in das Making-of unserer Methoden der
Erinnerungsarbeit und in die digitale Rekonstruktion der
antisemitischen Hassausstellung „Der ewige Jude", die 1938 hier
stattgefunden hat.
Für das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Wiens ist auch der
Nordwestbahnhof zwischen dem 2. und 20. Bezirk von Bedeutung: Dieses
wird vorrangig mit dem Wiener Nordbahnhof (als vermeintlich primärer
Ankunftsort der Immigration) oder mit dem Aspangbahnhof (als zentralem
Ort der Deportation) in Verbindung gebracht. Doch auf geradezu groteske
Weise - ist die jüdische Geschichte auf diesem Bahnhof durch zwei
gegensätzliche kulturelle Produktionen markiert: 1924 als Drehort der
(damals noch fiktiven) Deportation der Wiener Juden im Film „Stadt ohne
Juden" und 1938 als Ausstellungsort der antisemitischen
NS-Propaganda-Ausstellung „Der ewige Jude"- die mit Vorsatz
ausgerechnet inmitten der beiden Bezirke mit den höchsten jüdischen
Bevölkerungsanteilen abgehalten wurde.
In einer großformatigen Freiluft-Installation wurden „Spuren" dieser
zwei historischen Ereignisse an ihren Originalschauplätzen
rekonstruiert: Analog zu „Ausgrabungen" werden sowohl die
Grundrisslinien der 1952 abgebrochenen Bahnhofshalle und der 1938 darin
aufgebauten Ausstellung „Der ewige Jude" im Maßstab 1:1 am Boden
nachgezeichnet und als Erinnerungsmal „freigelegt". Gleichzeitig wird
mit Verweis auf die Dreharbeiten des Films „Stadt ohne Juden" ein
Kameraset und Zugwaggon in abstrahierter Form nachgebaut. War die
Deportation im Film von 1924 noch vorübergehend, so zeigte die
verhetzende Wirkung der Ausstellung 1938 ihre fatale Wirkung im Realen:
in Pogromen, Deportationen und Massenvernichtung.
Diese „Ausgrabungsstätte" dient zum einen als Markierung unserer
voranschreitenden Erinnerungsarbeit an frühere Bauetappen und Nutzungen
des Bahnhofs - insbesondere auch jene während der NS-Herrschaft. Die
mächtigen Gebäude und temporären Einbauten dieser Zeit existieren
jedoch längst nicht mehr, sind weitgehend in Vergessenheit geraten oder
aus der Erinnerung verdrängt worden. Zum anderen verstehen wir unsere
„Excavations" aber auch als Vorschlag, diese gemeinsamen Erinnerungen
zu erhalten und als materielle Manifestationen in die zukünftige
Freiraum-Gestaltung des an dieser Stelle geplanten neuen Stadtteils
einzuschreiben.
„Excavations from the darkest past" ist eine Außenstelle des Museum
Nordwestbahnhof und Teil des Projektes „Auf- & Zugeschüttet.
Lebensformen und Zwischennutzungen über und unter dem Nordwestbahnhof",
gefördert von KÖR Kunst im öffentlichen Raum Wien sowie dem
Zukunftsfonds und Nationalfonds der Republik Österreich, mit
freundlicher Unterstützung von APCOA, BAI und ÖBB.
Der Nordwestbahnhof 1945-55
Der Nordwestbahnhof und die Industriebetriebe in seiner Nachbarschaft
waren während des Zweiten Weltkriegs Orte der Rüstungsproduktion und
Kriegslogistik, was sie zum Ziel von Bombenangriffen der Alliierten
machte. Ein Großteil der Zerstörungen ging aber auf gezielte
Sprengungen durch die deutsche Wehrmacht auf ihrem Rückzug vor der
Roten Armee in den letzten Kriegstagen im April 1945 zurück.
Schon bis August 1945 hatten sowjetische Pioniere eine Fahrspur der
Nordwestbahn-Brücke als erste und vorerst einzige Bahnverbindung über
die Donau wieder Instand gesetzt, um die Stadt mit dringend notwendigen
Lebensmitteln, Brennholz, Öl und Kohle aus dem Waldviertel, dem
Marchfeld und der Tschechoslowakei versorgen zu können.
Parallel dazu entwickelte sich der Bahnhof zum wichtigen Umschlagplatz
für Material- und Truppentransporte der sowjetischen Besatzungsmacht,
für den Nachschub ebenso wie für den Abtransport von Industrieanlagen
als Reparationsleistung. Zwar begannen ÖBB und große österreichische
Speditionen sofort mit dem Wiederaufbau beschädigter und zerstörter
Hallen, insgesamt verzögerte die Situierung in der sowjetischen
Besatzungszone aber Investitionen in den Bahnhof.
Nicht mehr instandgesetzt, sondern ab 1952 abgetragen wurde die
Personen-Abfertigungshalle. Die improvisierten Bahnsteige vor der Ruine
dienten bis 1959 als Ersatzbahnhof für den Personenverkehr zwischen
Wien und dem Norden.
Der Nordwestbahnhof im Bezirk Brigittenau in Wien war der Kopfbahnhof
der Österreichischen Nordwestbahn. Zuletzt wurde bzw. wird das
Bahnhofsareal als Frachtenbahnhof bzw. Güterterminal genützt. Bis 2035
soll auf dem Areal ein neuer Stadtteil entstehen. Ende 2017 sind die
regulären Mietverträge der Unternehmen am Gelände ausgelaufen, und es
begann eine Phase der Zwischennutzung.
Der Nordwestbahnhof ist, obwohl zweitgrößter Bahnhof der früher sechs
Wiener Kopfbahnhöfe, heute kaum im allgemeinen Bewusstsein verankert.
Die Nordwestbahn verlor durch die Auflösung Österreich-Ungarns massiv
an Bedeutung. Der Personenverkehr wurde bereits 1952 nach einer Phase
als Ersatzbahnhof eingestellt. Bekannt war nur das verbliebene Postamt
1200, das frühere Hauptpostamt der Brigittenau auf der Seite zur
Nordwestbahnstraße. Der Bahnhof ist eher als Schauplatz politischer
Ereignisse in die Geschichte Wiens eingegangen.
Das Bahnhofsgelände ist nur etwa vier Kilometer vom Zentrum Wiens
entfernt und gehört seit 1900 zum 20. Bezirk. Das Gebiet grenzt im
Süden an die äußere Taborstraße, im Westen an die Nordwestbahnstraße,
im Osten an die Dresdner Straße und im Norden an die Stromstraße. Der
Haupteingang befindet sich derzeit in der Tabor- und der
Nordwestbahnstraße. Das Areal ist das letzte große
Stadtentwicklungsgebiet Wiens. Die Fläche beträgt rund 44 Hektar.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs hielten Hermann Göring am 26. März
1938 sowie Adolf Hitler, Joseph Goebbels und andere NS-Spitzenpolitiker
am 9. April 1938, einen Tag vor der „Volksabstimmung über die
Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“, in der
Bahnhofshalle Propagandareden. Die im Bahnhof gezeigte antisemitische
Ausstellung „Der ewige Jude“ sollte die begonnenen Judenverfolgungen
legitimieren.
Auf insgesamt 44 Hektar wurden Wohnungen für 12.000 Menschen,
Arbeitsplätze für 5.000 Menschen und eine große Parkanlage geplant.
2016 wurde von Wohnungen für bis zu 15.000 Menschen berichtet. Das
Areal wurde dazu in kleinere Flächen aufgeteilt, die von
unterschiedlichen Bauträgern genutzt werden sollen. Die Gebäude werden
in Blockrandbebauung errichtet und an den Rändern dieselbe Firsthöhe
wie die benachbarten Bauten aufweisen (insbesondere in der
Universumstraße, wo die Neubauten an den alten Baubestand unmittelbar
anschließen werden), höhere Gebäude sind für den mittleren Bereich
geplant. Das Zentrum des neuen Viertels wird die „Grüne Mitte“ sein,
ein parkartiges Gelände mit Fußgänger- und Radwegen, aber ohne
durchgehende Straßen. Ihre Sichtachse ist auf Leopoldsberg und
Riesenrad ausgerichtet. Für den öffentlichen Verkehr ist ein
Straßenbahnkorridor zwischen Wallensteinstraße und Traisengasse
geplant, auf dem eine (in den Plänen Linie 12 genannte) Verbindung zum
Franz-Josefs-Bahnhof einerseits und Praterstern andererseits geführt
werden soll.
Für die Zulaufstrecke des ehemaligen Nordwestbahnhofs, den
Gleisanschluss des Nordwestbahnhofes an die Wiener Donauuferbahn
(Nussdorf bis Wiener Hafen), wurde ein Nachnutzungskonzept nach dem
Vorbild des High Line Parks in New York entwickelt. Der knapp 2 km
lange Bahndamm würde eine unterbrechungsfreie Fußgänger- und
Fahrradverbindung zur Donau ermöglichen und eine Vernetzung des
gesamten Einzugsgebiets zum geplanten Nordwestbahnhof-Park und dem
Augarten ermöglichen. Insbesondere sollte die Eisenbahnbrücke über die
Hellwagstraße erhalten bleiben.
Das Areal ist eine der nicht mehr benötigten Bahnflächen, die nach 2000
aufgegeben wurden und wo Wohnviertel in Bau oder Planung sind. Die
anderen sind das Sonnwendviertel, das Nordbahnviertel und das Neue
Landgut.
Wem der viele Text zu lange war und lieber Bewegtbilder mit Musik mag,
kann sich gerne dieses Video antun: