Nordwestbahnhof Excavations

Wien, September 2025

Bevor das 40 Hektar große Areal einem neuen Stadtentwicklungsgebiet für 16.000 Bewohner:innen weichen wird, dokumentiert das Museum Nordwestbahnhof auf der Brache des Bahnhofs mit vorerst temporären Erinnerungs- oder Gedenkzeichen die Nutzung dieses letzten innerstädtischen Güterumschlagplatzes in der Zeit des Nationalsozialismus, als hier die antisemitische Hassausstellung „Der ewige Jude" stattfand, sowie seine Bedeutung für die Versorgung der Stadt während der sowjetischen Besatzung.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025

In einer Wanderung über das stillgelegte Bahnhofsareal legen wir anhand der noch verbliebenen Bauwerke sowie der von uns inszenierten Markierungen und Ausgrabungen Schichten aus dessen dunkler, vergessener Geschichte – dem verdrängten Unterbewussten des Areals – frei. Dabei geben wir Einblick in das Making-of unserer Methoden der Erinnerungsarbeit und in die digitale Rekonstruktion der antisemitischen Hassausstellung „Der ewige Jude", die 1938 hier stattgefunden hat.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025

Für das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Wiens ist auch der Nordwestbahnhof zwischen dem 2. und 20. Bezirk von Bedeutung: Dieses wird vorrangig mit dem Wiener Nordbahnhof (als vermeintlich primärer Ankunftsort der Immigration) oder mit dem Aspangbahnhof (als zentralem Ort der Deportation) in Verbindung gebracht. Doch auf geradezu groteske Weise - ist die jüdische Geschichte auf diesem Bahnhof durch zwei gegensätzliche kulturelle Produktionen markiert: 1924 als Drehort der (damals noch fiktiven) Deportation der Wiener Juden im Film „Stadt ohne Juden" und 1938 als Ausstellungsort der antisemitischen NS-Propaganda-Ausstellung „Der ewige Jude"- die mit Vorsatz ausgerechnet inmitten der beiden Bezirke mit den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteilen abgehalten wurde.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025

In einer großformatigen Freiluft-Installation wurden „Spuren" dieser zwei historischen Ereignisse an ihren Originalschauplätzen rekonstruiert: Analog zu „Ausgrabungen" werden sowohl die Grundrisslinien der 1952 abgebrochenen Bahnhofshalle und der 1938 darin aufgebauten Ausstellung „Der ewige Jude" im Maßstab 1:1 am Boden nachgezeichnet und als Erinnerungsmal „freigelegt". Gleichzeitig wird mit Verweis auf die Dreharbeiten des Films „Stadt ohne Juden" ein Kameraset und Zugwaggon in abstrahierter Form nachgebaut. War die Deportation im Film von 1924 noch vorübergehend, so zeigte die verhetzende Wirkung der Ausstellung 1938 ihre fatale Wirkung im Realen: in Pogromen, Deportationen und Massenvernichtung.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025

Diese „Ausgrabungsstätte" dient zum einen als Markierung unserer voranschreitenden Erinnerungsarbeit an frühere Bauetappen und Nutzungen des Bahnhofs - insbesondere auch jene während der NS-Herrschaft. Die mächtigen Gebäude und temporären Einbauten dieser Zeit existieren jedoch längst nicht mehr, sind weitgehend in Vergessenheit geraten oder aus der Erinnerung verdrängt worden. Zum anderen verstehen wir unsere „Excavations" aber auch als Vorschlag, diese gemeinsamen Erinnerungen zu erhalten und als materielle Manifestationen in die zukünftige Freiraum-Gestaltung des an dieser Stelle geplanten neuen Stadtteils einzuschreiben.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025

„Excavations from the darkest past" ist eine Außenstelle des Museum Nordwestbahnhof und Teil des Projektes „Auf- & Zugeschüttet. Lebensformen und Zwischennutzungen über und unter dem Nordwestbahnhof", gefördert von KÖR Kunst im öffentlichen Raum Wien sowie dem Zukunftsfonds und Nationalfonds der Republik Österreich, mit freundlicher Unterstützung von APCOA, BAI und ÖBB.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025

Der Nordwestbahnhof 1945-55
Der Nordwestbahnhof und die Industriebetriebe in seiner Nachbarschaft waren während des Zweiten Weltkriegs Orte der Rüstungsproduktion und Kriegslogistik, was sie zum Ziel von Bombenangriffen der Alliierten machte. Ein Großteil der Zerstörungen ging aber auf gezielte Sprengungen durch die deutsche Wehrmacht auf ihrem Rückzug vor der Roten Armee in den letzten Kriegstagen im April 1945 zurück.

Schon bis August 1945 hatten sowjetische Pioniere eine Fahrspur der Nordwestbahn-Brücke als erste und vorerst einzige Bahnverbindung über die Donau wieder Instand gesetzt, um die Stadt mit dringend notwendigen Lebensmitteln, Brennholz, Öl und Kohle aus dem Waldviertel, dem Marchfeld und der Tschechoslowakei versorgen zu können.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025

Parallel dazu entwickelte sich der Bahnhof zum wichtigen Umschlagplatz für Material- und Truppentransporte der sowjetischen Besatzungsmacht, für den Nachschub ebenso wie für den Abtransport von Industrieanlagen als Reparationsleistung. Zwar begannen ÖBB und große österreichische Speditionen sofort mit dem Wiederaufbau beschädigter und zerstörter Hallen, insgesamt verzögerte die Situierung in der sowjetischen Besatzungszone aber Investitionen in den Bahnhof.

Nicht mehr instandgesetzt, sondern ab 1952 abgetragen wurde die Personen-Abfertigungshalle. Die improvisierten Bahnsteige vor der Ruine dienten bis 1959 als Ersatzbahnhof für den Personenverkehr zwischen Wien und dem Norden.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025

Der Nordwestbahnhof im Bezirk Brigittenau in Wien war der Kopfbahnhof der Österreichischen Nordwestbahn. Zuletzt wurde bzw. wird das Bahnhofsareal als Frachtenbahnhof bzw. Güterterminal genützt. Bis 2035 soll auf dem Areal ein neuer Stadtteil entstehen. Ende 2017 sind die regulären Mietverträge der Unternehmen am Gelände ausgelaufen, und es begann eine Phase der Zwischennutzung.

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Der Nordwestbahnhof ist, obwohl zweitgrößter Bahnhof der früher sechs Wiener Kopfbahnhöfe, heute kaum im allgemeinen Bewusstsein verankert. Die Nordwestbahn verlor durch die Auflösung Österreich-Ungarns massiv an Bedeutung. Der Personenverkehr wurde bereits 1952 nach einer Phase als Ersatzbahnhof eingestellt. Bekannt war nur das verbliebene Postamt 1200, das frühere Hauptpostamt der Brigittenau auf der Seite zur Nordwestbahnstraße. Der Bahnhof ist eher als Schauplatz politischer Ereignisse in die Geschichte Wiens eingegangen.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025

Das Bahnhofsgelände ist nur etwa vier Kilometer vom Zentrum Wiens entfernt und gehört seit 1900 zum 20. Bezirk. Das Gebiet grenzt im Süden an die äußere Taborstraße, im Westen an die Nordwestbahnstraße, im Osten an die Dresdner Straße und im Norden an die Stromstraße. Der Haupteingang befindet sich derzeit in der Tabor- und der Nordwestbahnstraße. Das Areal ist das letzte große Stadtentwicklungsgebiet Wiens. Die Fläche beträgt rund 44 Hektar.

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Nach dem „Anschluss“ Österreichs hielten Hermann Göring am 26. März 1938 sowie Adolf Hitler, Joseph Goebbels und andere NS-Spitzenpolitiker am 9. April 1938, einen Tag vor der „Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“, in der Bahnhofshalle Propagandareden. Die im Bahnhof gezeigte antisemitische Ausstellung „Der ewige Jude“ sollte die begonnenen Judenverfolgungen legitimieren.

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Auf insgesamt 44 Hektar wurden Wohnungen für 12.000 Menschen, Arbeitsplätze für 5.000 Menschen und eine große Parkanlage geplant. 2016 wurde von Wohnungen für bis zu 15.000 Menschen berichtet. Das Areal wurde dazu in kleinere Flächen aufgeteilt, die von unterschiedlichen Bauträgern genutzt werden sollen. Die Gebäude werden in Blockrandbebauung errichtet und an den Rändern dieselbe Firsthöhe wie die benachbarten Bauten aufweisen (insbesondere in der Universumstraße, wo die Neubauten an den alten Baubestand unmittelbar anschließen werden), höhere Gebäude sind für den mittleren Bereich geplant. Das Zentrum des neuen Viertels wird die „Grüne Mitte“ sein, ein parkartiges Gelände mit Fußgänger- und Radwegen, aber ohne durchgehende Straßen. Ihre Sichtachse ist auf Leopoldsberg und Riesenrad ausgerichtet. Für den öffentlichen Verkehr ist ein Straßenbahnkorridor zwischen Wallensteinstraße und Traisengasse geplant, auf dem eine (in den Plänen Linie 12 genannte) Verbindung zum Franz-Josefs-Bahnhof einerseits und Praterstern andererseits geführt werden soll.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025

Für die Zulaufstrecke des ehemaligen Nordwestbahnhofs, den Gleisanschluss des Nordwestbahnhofes an die Wiener Donauuferbahn (Nussdorf bis Wiener Hafen), wurde ein Nachnutzungskonzept nach dem Vorbild des High Line Parks in New York entwickelt. Der knapp 2 km lange Bahndamm würde eine unterbrechungsfreie Fußgänger- und Fahrradverbindung zur Donau ermöglichen und eine Vernetzung des gesamten Einzugsgebiets zum geplanten Nordwestbahnhof-Park und dem Augarten ermöglichen. Insbesondere sollte die Eisenbahnbrücke über die Hellwagstraße erhalten bleiben.

Das Areal ist eine der nicht mehr benötigten Bahnflächen, die nach 2000 aufgegeben wurden und wo Wohnviertel in Bau oder Planung sind. Die anderen sind das Sonnwendviertel, das Nordbahnviertel und das Neue Landgut.

 Nordwestbahnhof Excavations Wien, September 2025



Wem der viele Text zu lange war und lieber Bewegtbilder mit Musik mag, kann sich gerne dieses Video antun: